Spiritualität und Religiosität in der psychotherapeutischen Praxis. Eine bundesweite Befragung von Psychologischen Psychotherapeuten

In den vergangenen beiden Jahrzehnten lässt sich innerhalb der akademischen Psychologie eine zunehmende theoretische Diskussion und empirische Erforschung von klinisch-psychotherapeutisch relevanten Fragestellungen im Zusammenhang mit den Themenbereichen Spiritualität und Religiosität beobachten. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Frage nach dem Umgang mit Spiritualität und Religiosität in der psychotherapeutischen Praxis sowie dem klinischen Wert einer Einbeziehung religiöser / spiritueller Faktoren in die psychotherapeutische Praxis und Diagnostik. Empirische Studien zum Thema stammen bislang jedoch vor allem aus den USA.

Im Rahmen des vorliegenden Projektes wurde eine bundesweite Fragebogenerhebung mit in freier Praxis tätigen Psychologischen Psychotherapeuten durchgeführt. Das Forschungsvorhaben zielte darauf ab, die Einstellungen und Erfahrungen von Vertretern der etablierten psychotherapeutischen Versorgung bezüglich der Themenbereiche Spiritualität und Religiosität zu explorieren. Darüber hinaus sollte erfasst werden, in welchem Ausmaß und in welcher Form diese Themenbereiche in der derzeitigen psychotherapeutischen Praxis eine Rolle spielen. Das Forschungsprojekt bestand aus drei Teilstudien:

  1. Im Rahmen einer ersten Erhebungswelle wurde ein Kurzfragebogen eingesetzt, der einige der derzeit diskutierten zentralen Fragestellungen zum Thema beinhaltete. Dieser wurde an eine Stichprobe von 1700 Psychologischen Psychotherapeuten verschickt. Die übergeordneten Ziele der Kurzbefragung lagen in der Durchführung von Gruppenvergleichen von Psychotherapeuten mit unterschiedlicher theoretischer Orientierung sowie in einer möglichst repräsentativen Erhebung.
  2. In einer Zwischenphase wurde eine Skala zur Erfassung der Einstellung zum Verhältnis von Spiritualität / Religiosität und Psychotherapie entwickelt. Dies wurde im Rahmen einer Diplomarbeit an einer Stichprobe von 230 Psychotherapeuten empirisch validiert. Auf Basis der item- und dimensionsanalytischen Untersuchung wurde ein ökonomisches Instrument mit zufrieden stellenden bis sehr guten psychometrischen Kennwerten für die Verwendung in der zweiten Erhebungswelle der Hauptstudie zusammengestellt. (Abstract)
  3. In der zweiten Erhebungswelle der Hauptstudie kam ein differenzierter Vertiefungsfragebogen zum Einsatz. Dieser wurde an eine Teilstichprobe von Psychotherapeuten verschickt, die sich im Rahmen der Kurzbefragung bereit erklärt hatten, an einer vertiefenden Befragung teilzunehmen. Primäres Ziel war hier die differenzierte Exploration einzelner Themenschwerpunkte auf die bei der ersten Erhebung zugunsten der Repräsentativität verzichtet werden musste.

Ausgewählte Ergebnisse der Kurzbefragung: Die Rücklaufquote lag mit einem N von 909 bei 57%. Zudem erklärten sich 55% der teilnehmenden Psychotherapeuten (N=498) bereit, an einer vertiefenden Befragung teilzunehmen. Es zeigte sich, dass die drei großen Psychotherapieschulen - Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie und psychoanalytisch / tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie - in der Untersuchungsstichprobe zu etwa gleichen Anteilen vertreten waren. Darüber hinaus ergab eine zusätzliche Nicht-Teilnehmerbefragung, dass nur eine leichte Stichprobenverzerrung vorlag: Und zwar waren unter den Teilnehmern diejenigen Psychotherapeuten tendenziell stärker vertreten, die sich für solche Themen stärker interessieren – nämlich humanistisch und methodenübergreifend orientierte Psychotherapeuten. Insgesamt sind die erhaltenen Daten als annähernd repräsentativ einzustufen.

Es zeigte sich, dass die Themenbereiche Spiritualität und Religiosität auch für viele Psychologische Psychotherapeuten in der Bundesrepublik Deutschland ein aktuelles und relevantes Thema darstellen. Die Befragten erwiesen sich, was diesbezügliche Fragestellungen anbelangt, als sehr aufgeschlossen und interessiert. Nach Einschätzung der Psychotherapeuten thematisieren im Durchschnitt 22% ihrer Klienten im Verlauf der Behandlung Inhalte und Probleme, die mit den Themenbereichen Spiritualität oder Religiosität zu tun haben. Demgegenüber ergab sich, ähnlich wie bei US-amerikanischen Studien, dass psychologisch relevante Fragestellungen im Zusammenhang mit den Themenbereichen Spiritualität und Religiosität im Rahmen der Psychotherapieausbildung nur in geringem Maße berücksichtigt wurden. So gaben 81% der befragten Psychotherapeuten an, dass diese Themen im Rahmen ihrer psychotherapeutischen Ausbildung gar nicht oder wenig berücksichtigt wurden. Ein beträchtlicher Anteil der Befragten sprach sich für eine stärkere Berücksichtigung diesbezüglicher Inhalte im Rahmen der Aus- und Weiterbildung aus. 67% bejahten den Wunsch nach einer stärkeren Berücksichtigung dieses Spezialgebietes im Rahmen des Psychologiestudiums und mehr als die Hälfte versprach sich einen mittleren bis sehr hohen Nutzen von Weiterbildungen zum Thema für die eigene psychotherapeutische Praxis.

Darüber hinaus wurde deutlich, dass Spiritualität bzw. Religiosität auch im persönlichen Leben von vielen Psychotherapeuten von Bedeutung sind. Gefragt nach der Bedeutsamkeit von Spiritualität bzw. Religiosität für das eigene Leben, stuften insgesamt 65% diese als in mittlerem (27%), ziemlich (22%) oder sehr hohem Maße (16%) bedeutsam ein. Ein weiterer bemerkenswerter Befund dieser Studie ist, dass Spiritualität / Religiosität vor allem auch als Einflussfaktor von Seiten der Therapeuten eine wesentliche Rolle zu spielen scheinen. So gab mehr als die Hälfte der befragten Psychotherapeuten an, dass ihre persönliche spirituelle bzw. religiöse Orientierung sich in mittlerem (27%), ziemlich (21%) oder sehr hohem Maße (8%) auf ihre psychotherapeutische Tätigkeit auswirke.

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen der theoretischen Orientierung erwiesen sich im Rahmen varianzanalytischer Gruppenvergleiche (abgesichert durch non-parametrische Verfahren) bei nahezu allen abhängigen Variablen als signifikant. Dabei war der Verlauf der Unterschiede zwischen den Gruppen nahezu durchgängig wie folgt: die geringsten Werte lagen bei den primär kognitiv-behavioral orientierten Psychotherapeuten, gefolgt von den psychoanalytisch / tiefenpsychologisch fundierten und den methodenübergreifenden Psychotherapeuten. Die jeweils höchsten Kennwerte zeigten sich bei den humanistisch orientierten Psychotherapeuten. Insgesamt erwies sich der Einfluss der theoretischen Orientierung in Hinblick auf die Einstellung zu und Erfahrungen mit den Themenbereichen Spiritualität und Religiosität jedoch als vergleichsweise gering.

Im Rahmen einer schrittweisen multiplen Regression wurde die Frage untersucht, welche Aspekte von Seiten des Psychotherapeuten dazu beitragen, die Thematisierung von spirituellen / religiösen Inhalten und Problemen im Verlauf der Behandlung vorherzusagen. Insgesamt konnten mittels dieser Analyse 26% der Varianz in der Kriteriumsvariablen aufgeklärt werden. Dabei zeigte sich, dass persönliche Merkmale des Therapeuten, wie z.B. dessen persönliche Auseinandersetzung mit diesen Themenbereichen, die Bedeutsamkeit von Spiritualität bzw. Religiosität für dessen eigenes Leben oder der Glaube an eine höhere, transzendente Wirklichkeit, wichtiger sind als strukturelle Faktoren wie Kassenzulassung oder psychotherapeutische Orientierung.

Die Daten weisen insgesamt darauf hin, dass die Themenbereiche Spiritualität und Religiosität für bundesdeutsche psychotherapeutische Praktiker und deren Tätigkeit von beachtlicher Relevanz sind. Die Befunde implizieren von daher, dass spirituelle und religiöse Faktoren im Rahmen der akademischen Ausbildung, der postgraduierten Psychotherapieausbildung sowie in der wissenschaftlichen Forschung, stärker mit einbezogen werden sollten.

Die systematische Auswertung der Befunde des dritten Teilprojektes steht noch aus.

Projektleiter: Prof. Dr. Dr. Harald Walach

Kooperationspartner: Prof. Franz Caspar

Bearbeiterin Teil 1 und 3: Dr. Dipl.-Psych. Liane Hofmann

Bearbeiterinnen Teil 2:
Dr. Dipl.-Psych. Liane Hofmann
Dipl.-Psych. Britta Möckelmann


Publikationen:

Hofmann, Liane (2012). Nun sag, wie hältst Du’s mit Spiritualität und Religiosität? Ergebnisse einer bundesweiten Befragung unter Psychologischen Psychotherapeuten. In Michael Schetsche und Kirsten Krebber (Hrsg.), Grenzpatrouillen. Sozialwissenschaftliche Forschung zu außergewöhnlichen Erfahrungen und Phänomenen. Berlin, Logos, S. 223 - 259.

Hofmann Liane & Walach, Harald (2011). Spirituality and religiosity in psychotherapy - A representative survey among German psychotherapists. Psychotherapy Research, 21(02), pp. 179-192.

Hofmann, Liane (2011). Spirituelle oder religiöse Orientierung und deren Auswirkung auf die psychotherapeutische Tätigkeit. In A. Büssing & N.B. Kohls (Hrsg.), Spiritualität transdisziplinär. Wissenschaftliche Grundlagen im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit. Heidelberg: Springer, S. 173-192.

Hofmann, Liane (2009) Spiritualität und Religiosität in der psychotherapeutischen Praxis. Eine bundesweite Befragung von Psychologischen Psychotherapeuten. Dissertation. Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. 

Hofmann, L., Möckelmann, B., Walach, H. (2003). Entwicklung und empirische Validierung einer Skala zur Erfassung der Einstellung von Psychotherapeuten zum Verhältnis von Psychotherapie und Spiritualität / Religiosität. In W. Belschner, L. Hofmann & H. Walach (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer Psychologie des Bewußtseins (S. 113-154). Oldenburg: BIS.