Geist und Materie
Bei längerer Betrachtung des mehrdeutigen Necker-Würfels (Abb. 1a, Necker 1832), einer der prominentesten sog. Kippfiguren, wird unsere Wahrnehmung instabil und wechselt spontan zwischen zwei Interpretationsmöglichkeiten (Abb. 1b) hin und her. Fügt man dem Bild des Necker-Würfels Tiefeninformation hinzu, wird der veränderte Würfel eindeutig und unsere Wahrnehmung stabil. In einer Reihe von EEG-Studien mit verschiedenen mehrdeutigen Stimuli und disambiguierten Varianten suchten wir nach Unterschieden zwischen der instabilen neuronalen Repräsentation mehrdeutiger und der stabilen Repräsentation eindeutiger visueller Information (Kornmeier & Bach 2009, Kornmeier et al. 2016, Joos et al. 2020a and 2020b). Zu unserer Überraschung fanden wir über grundverschiedene Stimulus-Kategorien hinweg ein sehr klares EEG-Muster mit niedrigen Amplituden zweier ereigniskorrelierter Potenziale („EKPs“, P200 und P400) bei mehrdeutigen Stimuli und hohen Amplituden bei eindeutigen Stimulus-Varianten (Abb. 2, Spalten 1 bis 3).
Mehrdeutigkeit scheint hier aber nicht der entscheidende Faktor zu sein, denn wir fanden mittlerweile sehr ähnliche Ergebnisse, wenn wir die Sichtbarkeit visueller Stimuli manipulierten, z.B. die Mundkrümmung von fröhlichen und traurigen Smileys (Abb. 2, rechte Spalte), oder den Linienverlauf von Buchstaben (hier ohne Abbildung).
In Kooperation mit der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg, sowie der Psychiatrie Strasbourg untersuchen wir in diesem Zusammenhang u.a. Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen, die zum Teil pathologisch unter instabilen Wahrnehmungs- und/oder mentalen Zuständen leiden, um Modelle und daraus resultierende Hypothesen zu testen und gleichzeitig diese Erkrankungen besser zu verstehen.
Abb. 2
(a) von links nach rechts: Necker-Gitter (Geometrie), schematische Darstellung des sog. Motion-Quartett (Bewegung, Von Schiller 1933; online Animation), Borings Alte/Junge Frau (Gestalt, Boring 1930), Smiley Stimuli. Die Stimuli in roten Rahmen stellen mehrdeutige, in schwarzen Rahmen disambiguierte Stimulus-Varianten dar. (b) Grand Mean EKP-Kurven (mittlere Kurve) ± SEM (obere und untere Kurven) von EEG-Elektrode Cz jeweils evoziert durch die mehrdeutigen (rote Kurven) und eindeutigen (schwarze Kurven) Stimulus-Varianten. Die disambiguierten Stimulus-Varianten evozieren deutlich erkennbar höhere EKP-Amplituden. (c) VoltageMaps für P200 und P400 zeigen in Falschfarben die Verteilung der EKP-Aktivität zu einem bestimmten Zeitpunkt (jeweils links 200 ms und rechts 400 ms nach Stimulus onset). Rote Farbe bedeutet hohe Amplituden, blaue Farbe niedrige Amplituden. Bemerkenswert ist die Vergleichbarkeit der EKP-Ergebnisse über sehr verschiedene Stimulus-Kategorien (Spalten) hinweg. (d) Scatterplot mit den individuellen Amplitudenwerten der einzelnen Versuchspersonen (Kreise und Sternchen repräsentieren P200- und P400-Amplituden). Die Amplitudenunterschiede zeigen sich auch auf individuellem Niveau.
Publikationen
Boring, E. G. (1930). A new ambiguous figure. Am J Psychol, 42, 444–445. http://dx.doi.org/10.2307/1415447
Joos, E., Giersch, A., Bhatia, K., Heinrich, S. P., Tebartz van Elst, L., & Kornmeier, J. (2020). Using the perceptual past to predict the perceptual future influences the perceived present—A novel ERP paradigm. PloS One, 15(9), e0237663. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0237663
Joos, E., Giersch, A., Hecker, L., Schipp, J., Heinrich, S. P., Tebartz van Elst, L., & Kornmeier, J. (2020). Large EEG amplitude effects are highly similar across Necker cube, smiley, and abstract stimuli. PloS One, 15(5), e0232928. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0232928
Kornmeier, J., & Bach, M. (2009). Object perception: When our brain is impressed but we do not notice it. Journal of Vision, 9(1), 7 1-10. https://doi.org/10.1167/9.1.7
Kornmeier, J., Wörner, R., & Bach, M. (2016). Can I trust in what I see? – EEG Evidence for a Cognitive Evaluation of Perceptual Constructs. Psychophysiology, 53, 1507–1523. https://doi.org/10.1111/psyp.12702
Necker, L. A. (1832). Observations on some remarkable optical phaenomena seen in Switzerland; and on an optical phaenomenon which occurs on viewing a figure of a crystal or geometrical solid. The London and Edinburgh Philosophical Magazine and Journal of Science, 1(5), 329–337. https://doi.org/10.1080/14786443208647909
Schiller, P. V. (1933). Stroboskopische Alternativversuche. Psychologische Forschung, 17, 179–214. http://dx.doi.org/10.1007/BF02411959