Spiritualität und Gesundheit

Psychotherapie und Spiritualität

Einführung

In den westlichen Industriegesellschaften zeichnet sich seit geraumer Zeit ein deutlicher Wandel innerhalb der religiösen Landschaften ab. Dieser wird von Sozial- und Religionswissenschaftlern unter dem Begriff „spiritual turn“ gefasst.  Parallel dazu lässt sich spätestens seit Beginn der 1990er-Jahre innerhalb der Psychologie, Psychiatrie und anderer gesundheitsbezogener Disziplinen ein wachsendes Interesse an Fragen zur klinisch-therapeutischen Bedeutsamkeit einer spirituellen oder religiösen Orientierung von Patienten beobachten. Eine zunehmende Zahl an VertreterInnen der etablierten Psychologie und Psychotherapie plädiert dafür, die spirituelle und religiöse Dimension stärker als bisher auch in der Theorienbildung, Forschung und Behandlungspraxis mit einzubeziehen.

Entsprechend den Aufgabenstellungen des IGPP und dessen Grenzgebietsforschung wurde der Forschungsschwerpunkt „Psychotherapie und Spiritualität“ ins Leben gerufen.

Ausgewählte Projekte

Spiritualität in der psychoonkologischen und palliativpsychologischen Versorgung

Die Bedeutsamkeit von Spiritualität als gesundheitsbezogene Variable ist in Theorie, Forschung und Anwendung in der akademischen Psychologie und weiteren gesundheitsbezogener Disziplinen etwa mit Beginn der 1990er-Jahre in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass dem möglichen Einbezug der spirituellen Dimension menschlicher Erfahrung speziell bei lebensverkürzenden und schweren Erkrankungsverläufen ein besonderer Stellenwert gebührt. Für die psychologische Begleitung solcher Verläufe entwickelten sich die klinischen Ansätze der Psychoonkologie und Palliativpsychologie. Der disziplinenübergreifende Einbezug der spirituellen und religiösen Dimension in einem klinischen Umfeld wird als „Spiritual Care“ bezeichnet.

Das Projekt „Spiritualität in der psychoonkologischen und palliativpsychologischen Versorgung“ widmet sich den folgenden Fragen:

  • Wie kann man die spirituelle Dimension in der Behandlung von körperlich erkrankten und psychisch belasteten Personen auf eine professionell angemessene und unterstützende Weise miteinbeziehen?
  • Welche Erfahrungen, Einstellungen und Bedürfnisse berichten Palliativpsychologen und Psychoonkologen hinsichtlich Ihrer eigenen Tätigkeit in diesem Bereich?
  • Welche psychotherapeutischen Leitaspekte sind hinsichtlich einer Einbeziehung der Spiritualität Betroffener zu berücksichtigen?

Projektteam

Kooperationen

Publikationen

Hofmann, L. & Berthold, D. (2025). Spiritualität in der psychoonkologischen und palliativpsychologischen Behandlung. Onkologie, 31, 69–74. https://doi.org/10.1007/s00761-024-01627-7

Hofmann, L., Berthold, D., & Gramm, J. (angenommen). Reden über Gott und die Welt. Spiritualität und Religiosität in der palliativpsychologischen Behandlung. In C. Zwingmann, C. Klein, & F. Jeserich (Hrsg.), Religiosität/Spiritualität – Sterben – Tod – Trauer. Beiträge zur empirischen Religionsforschung. Waxmann.

Hofmann L. (2021). Spirituell, aber nicht religiös? Überlegungen zur Einbeziehung der spirituellen Dimension in der Behandlung von religiös nicht gebundenen Krebspatienten. Bewusstseinswissenschaften. Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, 27(1), 66–79.

Berthold, D., Gramm, J. &  Hofmann, L. (2016). Spiritualität und Religiosität in der Weiterbildung von Psychologen in Palliative Care. Spiritual Care – Zeitschrift für Spiritualität in den Gesundheitsberufen, 5(1), 17–24. https://doi.org/10.1515/spircare-2016-0004

Spiritualität und Religiosität in der psychotherapeutischen Praxis. Eine bundesweite Befragung von psychologischen PsychotherapeutInnen

Im Rahmen einer annähernd repräsentativen bundesweiten Fragebogenerhebung wurden 895 psychologische Psychotherapeuten in freier Praxis zu den Themenbereichen Spiritualität und Religiosität befragt. Das Forschungsvorhaben zielte darauf ab, die Einstellungen und Erfahrungen von Vertretern der etablierten psychotherapeutischen Versorgung bezüglich der Themenbereiche Spiritualität und Religiosität zu explorieren. Darüber hinaus sollte erfasst werden, in welchem Ausmaß und in welcher Form diese Themenbereiche in der derzeitigen psychotherapeutischen Praxis eine Rolle spielen

Im Einzelnen sollte folgenden Fragestellungen genauer nachgegangen werden:

  1. In welchem Ausmaß und in welcher spezifischen Art und Weise sind die Themenbereiche Spiritualität und Religiosität in der bundesdeutschen psychothera­peutischen Praxis von Bedeutung?
  2. In welchem Maße wurden klinisch relevante Fragestellungen zu diesen Themenbereichen im Rahmen der Psychotherapieausbildung berücksich­tigt?
  3. Wie beurteilen die psychotherapeutischen PraktikerInnen ihre diesbezügliche Aus­bildung und welche Bedürfnisse äußern sie?
  4. Wie lässt sich die persönliche spirituelle/ religiöse Einbindung und Orientierung der PsychotherapeutInnen beschreiben?
  5. Welchen Einfluss hat eine etwaige spirituelle beziehungsweise religiöse Orientierung der PsychotherapeutInnen auf deren psychotherapeutische Tätigkeit?
  6. Welche Bedeutung hat die theoretische Orientierung in Hinblick auf die Ein­stellung zu und den Umgang mit diesen Themenbereichen?

Ausgewählte Befunde

Eine Stichprobe von 1700 psychologischen Psychotherapeuten in freier Praxis wurde angeschrieben und um die Beantwortung eines Fragebogens gebeten. In die statistische Auswertung gingen 895 Antworten von approbierten psychologischen PsychotherapeutInnen ein. Es zeigte sich, dass die Themenbereiche Spiritualität und Religiosität auch für viele psychologische PsychotherapeutInnen in der Bundesrepublik Deutschland ein aktuelles und relevantes Thema darstellen. Die Befragten erwiesen sich, was diesbezügliche Fragestellungen anbelangt, als sehr aufgeschlossen und interessiert. Nach Einschätzung der PsychotherapeutInnen thematisieren im Durchschnitt 22% ihrer KlientInnen im Verlauf der Behandlung Inhalte und Probleme, die mit den Themenbereichen Spiritualität oder Religiosität zu tun haben. Demgegenüber ergab sich, ähnlich wie bei US-amerikanischen Studien, dass psychologisch relevante Fragestellungen im Zusammenhang mit den Themenbereichen Spiritualität und Religiosität im Rahmen der Psychotherapieausbildung nur in geringem Maße berücksichtigt wurden. Mit etwa zwei Dritteln, sprach sich ein beträchtlicher Anteil der Befragten für eine stärkere Berücksichtigung diesbezüglicher Inhalte im Rahmen der akademischen und psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung aus. Darüber hinaus wurde deutlich, dass Spiritualität bzw. Religiosität auch im persönlichen Leben von vielen PsychotherapeutInnen von Bedeutung sind.

Varianzanalytische Gruppenvergleiche (abgesichert durch non-parametrische Verfahren) ergaben, dass humanistisch und methodenübergreifend orientierte Psychotherapeuten diesen Themenbereichen mehr Bedeutung beimessen als psychodynamisch und verhaltenstherapeutisch orientierte. Jedoch erwies sich die Bedeutung der theoretischen Orientierung in Hinblick auf das Untersuchungsthema als vergleichsweise gering.

Im Rahmen einer schrittweisen multiplen Regression wurde die Frage untersucht, welche Faktoren von Seiten der Psychotherapeutinnen dazu beitragen, die Thematisierung von spirituellen / religiösen Inhalten und Problemen im Verlauf der Behandlung vorherzusagen. Dabei zeigte sich, dass persönliche Merkmale der TherapeutInnen, wie z.B. deren persönliche Auseinandersetzung mit diesen Themenbereichen, die Bedeutsamkeit von Spiritualität bzw. Religiosität für deren eigenes Leben oder der Glaube an eine höhere, transzendente Wirklichkeit, wichtiger sind als strukturelle Faktoren wie Kassenzulassung oder psychotherapeutische Orientierung.

Welche Schlüsse sind aus diesen Befunden zu ziehen?

Die Befunde dieser Studie zeigen, dass Spiritualität und Religiosität sowohl im psychotherapeutischen Setting als auch im persönlichen Leben von vielen psychotherapeutischen Praktikerinnen eine bedeutsame Rolle spielen. Insofern implizieren die erhobenen Daten, dass klinisch relevante spirituelle und religiöse Einflussfaktoren im Rahmen der akademischen Ausbildung, der postgraduierten Psychotherapieausbildung und der wissenschaftlichen Forschung, stärker mit einbezogen werden sollten.

Die Befunde dieser Erhebung sind insofern besonders aussagekräftig, als es die bislang einzige bundesweite, annähernd repräsentative und groß angelegte Studie zum Thema im bundesdeutschen Raum ist. Diese Studie fand ein entsprechend breites Echo in vielgelesenen psychotherapeutischen Fachzeitschriften. Berichtet wurde darüber beispielsweise in Psychotherapy Research 2011, 21 (02); Psychotherapeuten Journal 2012 (2 und 3), 2016 (2); Deutsches Ärzteblatt 2/2017; Psychotherapeut 2015, 60 (5).

Die spirituelle und religiöse Dimension menschlicher Erfahrung erfahren seit etwa Anfang der 1990er- Jahre zunehmende Aufmerksamkeit seitens der etablierten Psychotherapie und der Gesundheitsberufe. Während einerseits in dieser Zeit eine Fülle an qualitativ hochwertigen klinisch-therapeutisch ausgerichteten Materialien zum Thema entstanden ist, werden viele offene Fragen nach wie vor recht kontrovers diskutiert. Die Befunde dieser Studie konnten zweifellos einen wertvollen Beitrag zur Klärung von offenen Fragen auf diesem Gebiet leisten.

Projektteam

Kooperation

Publikationen

Hofmann, L. (2020). Spiritualität in der Psychotherapie. In D. Vaitl (Hrsg.). An den Grenzen unseres Wissens. Von der Faszination des Paranormalen (S. 283–304). Herder.

Walach, H. & Hofmann, L. (2018). Spiritualität und Religiosität in der Psychotherapie. In G. Juckel, K. Hoffmann & H. Walach (Hrsg.), Spiritualität: in Psychiatrie & Psychotherapie (S. 283–304). Pabst Science Publishers.

Hofmann, L. (2012). Nun sag, wie hältst Du‘s mit Spiritualität und Religiosität? Ergebnisse einer bundesweiten Befragung unter Psychologischen Psychotherapeuten. In M. Schetsche und K. Krebber (Hrsg.), Grenzpatrouillen. Sozialwissenschaftliche Forschung zu außergewöhnlichen Erfahrungen und Phänomenen (S. 223–259). Logos.

Hofmann L. & Walach, H. (2011). Spirituality and religiosity in psychotherapy – A representative survey among German psychotherapists. Psychotherapy Research, 21(02), 179–192. https://doi.org/10.1080/10503307.2010.536595

Hofmann, L. (2011). Spirituelle oder religiöse Orientierung und deren Auswirkung auf die psychotherapeutische Tätigkeit. In A. Büssing & N. B. Kohls (Hrsg.), Spiritualität transdisziplinär. Wissenschaftliche Grundlagen im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit (S. 173–192). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-13065-6_15

Hofmann, L. (2009). Spiritualität und Religiosität in der psychotherapeutischen Praxis. Eine bundesweite Befragung von Psychologischen Psychotherapeuten. Dissertation. Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Hofmann, L., Möckelmann, B., Walach, H. (2003). Entwicklung und empirische Validierung einer Skala zur Erfassung der Einstellung von Psychotherapeuten zum Verhältnis von Psychotherapie und Spiritualität / Religiosität. In W. Belschner, L. Hofmann & H. Walach (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer Psychologie des Bewußtseins (S. 113-154). BIS-Verlag.