Gesellschaft – Wissen – Diskurse

Schama­nismus und Neoschama­nismus

Einführung

Seit Mitte der 1960er Jahre wird dem Schamanismus in westlichen Gesellschaften ein verstärktes Interesse entgegengebracht, das allerdings in einer weit zurückreichenden europäischen Tradition steht. Historisch gesehen wurden Schamaninnen und Schamanen entweder pathologisiert und beispielsweise als „arktische Hysteriker“ charakterisiert oder sie wurden als „edle Wilde“ idealisiert. Diese historischen Varianten der positiven oder negativen Abgrenzung sind im Rahmen alternativer und esoterischer Weltdeutungen einer identifizierenden Vereinnahmung gewichen. Im Neoschamanismus, auch als „moderner westlicher Schamanismus“ bezeichnet, wird versucht, eine Anpassung indigener Weltdeutung und Spiritualität an die Gegebenheiten moderner Gesellschaften westlichen Typs vorzunehmen und sie mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen zu integrieren.

Ein wesentlicher Aspekt besteht dabei in der Adaption der schamanischen Heilung, die als eine Ergänzung zu den schulmedizinischen und konventionellen psychotherapeutischen Verfahren angesehen wird, wie dies auch bei anderen alternativ- oder komplementärmedizinischen Verfahren der Fall ist. Die schamanische Praxis zeichnet sich dadurch aus, dass die praktizierende Person einen veränderten Bewusstseinszustand willentlich induziert, um in diesem Zustand sogenannte „schamanische Reisen“ u.a. zum Erlangen von Informationen zu unternehmen. Diese Informationen sollen Hinweise auf die „eigentlichen Ursachen“ der Krankheit oder Störung geben, die deren Therapierung jenseits einer bloßen Symptombekämpfung ermöglicht.

Der Schamanismus und Neoschamanismus ist für die Themenstellungen des IGPP in verschiedener Hinsicht interessant:

Cover von Buch "Schamanismus in Deutschland"
Abb. 1
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Ausgewählte Projekte

Schamanismus und Neoschamanismus im deutschsprachigen Raum – eine Feldstudie

In der im Jahr 2000 begonnenen Feldstudie wurden zwei Aspekte untersucht. Zum einen ging es um eine allgemeine Sichtung der heterogenen Szene, zum anderen um eine Befragung (neo-)schamanischer Anbieter:innen. Im Ergebnis der Sichtung der umfangreichen Schamanismus-Literatur, von Internetseiten und Zeitschriften konnten verschiedene Arbeitsweisen und Selbstdarstellungsformen der Schamanismus-Angebote im Kontext der Psycho- und Esoterikszene rekonstruiert werden. Die teilnehmende Beobachtung in verschiedenen Seminaren und einem Schamanismus-Kongress erbrachte Einblicke in die Praxis des Neo-Schamanismus sowie die Schamanismus-Rezeption im deutschsprachigen Raum.

Das inhaltlich-methodische Zentrum der Untersuchung bildeten Tiefeninterviews mit schamanisch tätigen Personen im deutschsprachigen Raum, die als Anbieter von Workshops, Kursen und Einzelbehandlungen in Erscheinung treten. Im Rahmen der umfangreichen Interviews wurden Erkenntnisse über Biografie, Motive, Angebote, Beliefs und Erfahrungen gewonnen und individuelle Unterschiede wie auch Gemeinsamkeiten herausgearbeitet. Zwei Themenbereiche, die mit der Arbeit des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene zusammenhängen, waren dabei von besonderem Interesse: der Umgang und die Erfahrungen mit veränderten Bewusstseinszuständen sowie paranormale Erlebnisse, von denen im Zusammenhang mit Schamanismus regelmäßig die Rede ist. Zusätzlich wurden die Möglichkeiten und Grenzen der Integration individueller Erfahrungen in einen kulturellen Kontext ausgelotet, in dem schamanische/animistische Deutungsmuster nicht üblich sind.

Publikationen

Mayer, G. (2014). Heilung mit Geistern. Ethische Fragen im Kontext neoschamanischer Praktiken. In M. Utsch (Hrsg.), Spirituelle Lebenshilfe. Zwischen Esoterik, Psychologie und Seelsorge (Bd. 229, S. 29–43). Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. http://www.igpp.de/german/eks/EZW_Lebenshilfe_fin.pdf

Mayer, G. (2008). Healing with „spirits“: Ethical issues arising from neoshamanistic practices and similar forms of alternative healing. Spirituality and Health International9, 218–229. https://doi.org/10.1002/shi.352

Mayer, G. (2004). Neo-shamanism in Germany. In M. N. Walter & E. J. N. Fridman (Hrsg.), Shamanism. An Encyclopedia of World Beliefs, Practices and Culture. Zwei Bände (S. 496–500). ABC-Clio.

Mayer, G. (2003). Schamanismus in Deutschland: Konzepte—Praktiken—Erfahrungen. Ergon.

Projektmitarbeiter
Die Figur des Schamanen als moderner Mythos

Die Vorstellung des Schamanen als eines begabten Heilers, die im sogenannten Neo-Schamanismus von zentraler Bedeutung ist, bildet nur einen Teil des Bedeutungsfeldes, das mit der Figur des Schamanen oder der Schamanin verknüpft wird. In diesem Projekt wurden neben dem des Heilers verschiedene andere Facetten der Rezeption der Figur des Schamanen in modernen westlichen Gesellschaften herausgearbeitet. Sie alle geben Antwort auf die Frage nach den Gründen für die Faszination, die die Figur des Schamanen ausübt und sie zu einer Projektionsfläche für westliche Fantasien werden lässt. Neben dem „klassisch“ neoschamanischen Aspekt mit dem Schwerpunkt auf der heilenden und beratenden Tätigkeit werden die Konzeptionen des (Stadt-)Schamanen als einem kulturkritischen Rebellen und Anarchisten, des Techno- oder Cyberschamanismus sowie des Schauspielers und Künstlers als „Schamane“ untersucht. Schließlich wird die so in westlichen Konzeptionen entworfene „Figur des Schamanen“ in einen Zusammenhang mit den „Chiffren der Transzendenz“ im Sinne des Philosophen Karl Jaspers gebracht und gezeigt, dass sie durch ihre zugeschriebenen Eigenschaften und Funktionen zu einer machtvollen Chiffre für einen individuellen und erfahrungsorientierten Zugang zur Transzendenz werden.

Publikationen

Mayer, G. (2015a). Der Schamane als moderner Mythos und als Chiffre der Transzendenz—Aspekte der Faszination und Attraktivität der Figur des Schamanen in der säkularisierten Moderne. In H. Fugmann (Hrsg.), Schamanismus als Herausforderung: Dokumentation des Symposiums 2015 in Bad Alexandersbad (S. 49–89). Books on Demand.

Mayer, G. (2009). Die Figur des Schamanen: Zur Attraktivität des Schamanismus in modernen Gesellschaften. Zeitschrift für Anomalistik9(1), 52–81.

Mayer, G. (2008). The figure of the shaman as a modern myth: Some reflections on the attractiveness of shamanism in modern societies. The Pomegranate10(1), 70–103. https://doi.org/10.1558/pome.v10i1.70

Projektmitarbeiter