Außergewöhnliche Erfahrungen und veränderte Bewusstseinszustände

Studien mit dem Fragebogen zur Phänomenologie außergewöhnlicher Erfahrungen (PAgE)

Basierend auf der Annahme, dass das mentale Realitätsmodell des Menschen auf der Dichotomie eines Selbstmodells und eines Weltmodells beruht, sind vier Grundklassen von außergewöhnlichen Phänomenen (AgP) anzunehmen: Hinsichtlich ihrer Lokalisation können AgP als internale Phänomene im Selbstmodell oder als externale Phänomene im Weltmodell auftreten. Bezüglich ihrer Relation können AgP als Koinzidenzphänomene zu außergewöhnlichen Verbindungen oder als Dissoziationsphänomene zu außergewöhnlichen Trennungen zwischen Elementen des Selbst- und des Weltmodells führen. Alle AgE sind im Prinzip auf AgP dieser vier Grundklassen rückführbar. Auf dieser theoretischen Grundlage wurde der „Fragebogen zur Phänomenologie außergewöhnlicher Erfahrungen“ (PAgE) entwickelt und seit 2011 in als PAgE-R in der Beratungspraxis eingesetzt. Er erfasst die Häufigkeit von AgP der vier Grundklassen, ihr zeitliches Auftreten, die situativen Umstände sowie soziodemografische Daten.

Im Jahre 2017 wurde eine Vergleichsstudie mit sechs Stichproben (AgE-Ratsuchende, Studierende, Schweizer Normalbevölkerung, Menschen mit Nahtoderfahrungen, Meditierende sowie eine Stichprobe mit Befragten aus den USA) durchgeführt (Fach, 2024). Dabei zeigte sich, dass die Häufigkeit von AgP bei Ratsuchenden etwa doppelt so hoch ist wie in der Normalbevölkerung. Noch häufiger als Ratsuchende berichten die Nahtoderfahrenen und die Meditierenden über AgP.

Abb. 1

Abbildung 1 zeigt die jeweiligen Mittelwerte der AgP-Grundklassen auf einer fünfstufigen Häufigkeitsskala von „nie“ (0) bis „sehr häufig“ (4). Insgesamt liegen sie bei den Ratsuchenden um etwa 50 % höher als in der Normalbevölkerung. Ratsuchende bewerten ihre AgE zudem als bedeutungsvoller für ihr Leben und in höherem Maße gleichzeitig als „positiv und bereichernd“ sowie „negativ und belastend“ – eine Ambivalenz, die es in der Normalbevölkerung so nicht gibt. Insgesamt fanden sich kaum relevante Unterschiede hinsichtlich der äußeren Umstände: In allen Stichproben manifestierten sich die angegebenen Phänomene überwiegend im Wachzustand und traten spontan auf. Dass AgE nicht nur bei Hilfe suchenden Klienten, sondern, wenn auch seltener, in der Normalbevölkerung auftreten, spricht dafür, dass AgE allgemein verbreitet und in ihrer Häufigkeit und Intensität kontinuierlich verteilt sind. Erst in einem höheren Ausprägungsgrad gehen AgE mit Belastungen und psychischen Störungen einher. Dass Personen mit Nahtoderfahrungen und Meditierende ihre noch deutlich häufigeren AgE vorwiegend positiv bewerten und sich nicht oder kaum belastet fühlen, spricht allerdings gegen eine Gleichsetzung von AgE und psychischen Störungen. Ganz offensichtlich kommen bei den Ratsuchenden noch andere Faktoren ins Spiel.

Obwohl die Häufigkeiten von AgE in den unterschiedlichen Stichproben variieren, weisen die Anteile der Phänomengrundklassen überall vergleichbare proportionale Anteile auf: Koinzidenzphänomene sind am häufigsten, internale Phänomene und externale Phänomene liegen etwa gleichrangig an zweiter bzw. dritter Stelle, während Dissoziationsphänomene am seltensten vorkommen. Die USA-Stichprobe liefert erste Hinweise, dass die Ergebnisse des deutschsprachigen Raums auf außereuropäische Länder übertragbar sein könnten. Das AgP in verschiedenen Populationen trotz unterschiedlicher Häufigkeit die gleichen proportionale Anteile in den Grundklassen aufweisen, lässt auf eine universelle Dimensionalität von AgE schließen.

Auf Grundlage der Vergleichsstichprobe wurde der PAgE-R validiert und noch einmal revidiert. Der neue PAgE-II enthält nach einer Reduktion der Itemzahl eine AgE-Globalskala, die aus den vier Subskalen Externalität, Internalität, Koinzidenz und Dissoziation mit je fünf Items gebildet wird. Das Antwortformat ist eine neu angepasste fünfstufige Häufigkeitsskala von „nie“ =(0) bis „häufig“ (4). Item- und Skalenanalysen zeigen Kennwerte und Reliabilitätskoeffizienten, die den allgemeinen Gütekriterien und Standards der Testdiagnostik entsprechen. Die Konstruktvalidität wurde inzwischen durch weitere und auch internationale Studien bestätigt. In verschiedenen Kooperationen wurde der PAgE-II ins Englische (Christine Simmonds-Moore, Universität West-Georgia), Französische (Renaud Evrard, Universität Loraine), Italienische (Patrizio Tressoldi, Universität Padua) und Spanische (Yolanda Alonso, Universität Almeria) übersetzt. Die Dimensionalität der AgP-Grundklassen konnte in allen Stichproben repliziert werden. Die Mittelwerte der PAgE-II-Studien sind in Abbildung 2 dargestellt. Dass sie in Frankreich und Italien deutlich höher als in den deutschen Stichproben sind, ist darauf zurückzuführen, dass die Teilnehmenden über AgE-affine Internetforen rekrutiert wurden. Ungeachtet der Häufigkeitsunterschiede zeigt sich die vertraute Ausprägung der AgP-Grundklassen. Eine Ausnahme bildet die Schlafparalyse-Stichprobe, in der dissoziative AgP erwartungsgemäß häufiger vorkommen. Zukünftige Studien müssen zeigen, ob die Dimensionalität der AgP-Grundklassen auch über den Raum der europäischen und westlichen Kulturen hinaus Geltung hat.

Abb. 2

Projektteam

Publikationen

Fach, W. (2024). Das Spektrum des Außergewöhnlichen. Konzeptionelle Ansätze, empirisch-phänomenologische Untersuchungen und plananalytische Fallstudien zur mentalen Repräsentation bei außergewöhnlichen Erfahrungen [Dissertation]. Universität Bern. https://boristheses.unibe.ch/5179/