Außergewöhnliche Erfahrungen und Veränderte Bewusstseinszustände

Biografische Integration außergewöhnlicher Erfahrungen

Einführung

Außergewöhnliche Erfahrungen (AgE) weichen vom alltäglichen Erleben ab. Sie können positiv oder negativ erlebt werden und das Weltbild der erlebenden Person bestätigen, es in Frage stellen oder gar erschüttern. Wie mit diesen Erfahrungen umgegangen wird und wie sie biografisch integriert werden, hängt von vielen Faktoren ab. So spielen neben dem Weltbild vorhandene persönliche und kulturelle Deutungsmuster, Vorerfahrungen sowie der Kontext, in dem die AgE gemacht werden, eine wichtige Rolle für deren Auswirkungen auf die Glaubensvorstellungen und die narrative Konstruktion der eigenen Biografie.

AgE können spontan auftreten, ohne dass eine direkte Ursache erkennbar wäre. Dies kann zu Staunen führen, aber auch zur zweifelnden Frage, ob man einer Sinnestäuschung erlegen sein könnte. Etwas anders verhält es sich, wenn AgE im Rahmen von religiösen, spirituellen oder magischen Praktiken auftreten. Dort können sie wichtige Funktionen übernehmen. Die Bedeutung von AgE für den Prozess der Annahme eines heterodoxen Glaubenssystems oder einer alternativen religiösen Weltanschauung wurde in der Forschungsliteratur oft vernachlässigt. Religionswissenschaftler beschäftigen sich vor allem mit dem religionssoziologischen oder religionspsychologischen Prozess der religiösen Konversion, den sie in verschiedene Phasen unterteilen. Außergewöhnliche Erlebnisse werden dabei zwar als potenzielle innere Auslöser mitberücksichtigt (z. B. mystische Erlebnisse oder Nahtoderlebnisse), doch wird die besondere Qualität dieser Erlebnisse oft nicht in Betracht gezogen.

Wir gingen der Frage nach der besonderen Bedeutung von AgE für die Übernahme von unorthodoxen Glaubensvorstellungen anhand von Interviewmaterial nach, das in drei Feldstudien im deutschsprachigen Raum erhoben worden ist.

Ausgewählte Projekte

Der Magier und seine Welt(en)

Die Bedeutung und Verwendung der Begriffe „Magie“, „Magier“ und „magisch“ ist – je nach Perspektive und Kontext – sehr unterschiedlich. Man spricht z.B. von magischen Glaubensvorstellungen und Handlungen, von magischen Gegenständen, von der Magie, die von einer Situation ausgeht oder die den Verlauf einer Situation prägt („da muss Magie im Spiel gewesen sein“), von magischer Heilwirkung. Der charismatische Konzertpianist wird in seiner außergewöhnlichen Beherrschung seines Instruments und der Fähigkeit, mit seinem Vortrag Stimmungen zu erzeugen, ebenso als Magier bezeichnet wie der Bühnenillusionist, der mit seiner „Zaubervorstellung“ das Publikum fasziniert und rätseln lässt. Darüber hinaus gibt es die Figur des Magiers, der man die Beschäftigung mit okkulten Kräften nachsagt. Diese letztgenannte Bestimmung beschreibt den Gegenstand der Feldstudie, die im Zeitraum von 2004-2007 durchgeführt wurde.

Ziel war es, einen Überblick über aktuelle, im deutschsprachigen Raum vorfindbare Praktiken und die hinter ihnen stehenden Denksysteme zu verschaffen. Dazu wurden Darstellungen in entsprechender Literatur und auf Internetseiten analysiert. Das Hauptziel der Untersuchung lag allerdings in der Erhebung und Auswertung von ausführlichen themenzentrierten Einzelinterviews mit praktizierenden Magierinnen und Magiern. Thematische Schwerpunkte dieser Interviews waren:

  • Biografische Einbettung
  • Adaption magischer Wissensbestände
  • Magische Praxis und Formen der Evaluierung
  • Soziales Umfeld / Magische Netzwerke
  • Weltinterpretation und Weltbild
  • Ethik / Wertorientierung

Elf magisch praktizierende Personen wurden als Gesprächspartner gewonnen. Die Bandbreite der vertretenen magischen Richtungen war recht groß und reichte von Vertretern weißmagischer Orden („Servants of the Light“) mit einem Schwerpunkt auf Ritualmagie bis zu Mitgliedern von satanischen Orden („Current of Seth“). Bei den meisten Interviewpartnern handelte es sich um Personen mit einer langjährigen magischen Praxis; manche von ihnen können als Schlüsselfiguren der deutschsprachigen magischen Szene angesehen werden.

Ein zentraler Befund der Untersuchung besteht darin, dass man keine typische Magierpersönlichkeit feststellen kann. Gemeinsame Merkmale der „Magierinnen“ und „Magier“ sind ein starker Individualismus, frühe Auseinandersetzungen mit weltanschaulich-philosophischen Fragestellungen, tendenziell altersunübliche Interessen während der Jugend, ein Moment der Rebellion und Nichtanpassung (in unterschiedlichster Form und Ausprägung) sowie eine Faszination am „Lebenshintergründigen“, an den Grenzbereichen des Lebens und den „dunkleren Seiten“ der Existenz. Eine bedeutsame Rolle spielen auch subjektive Evidenzerlebnisse von Ereignissen und Erfahrungen, bei denen herkömmliche naturwissenschaftliche Erklärungsansätze unzureichend erscheinen.

Aus einer differentialpsychologischen Perspektive heraus konnte eine Dimensionierung der magischen Persönlichkeit vorgenommen werden. Mit der daraus abgeleiteten Heuristik ist es möglich, die unterschiedlichen Ansätze und Motivstrukturen, unter denen die magische Praxis steht, zu verorten. Es wurden fünf typisierte Aspekte der Figur des Magiers herausgearbeitet, die als sich wechselseitig nicht ausschließende Orientierungen menschlichen Agierens zu verstehen sind und zur magischen Praxis als Handlungsform führen können: 1) Der Magier als Künstler, 2) der Magier als Sozialutopist, 3) der Magier als Wissenschaftler, 4) der Magier als „fully functioning person“ und 5) der Magier als Weisheitssucher.

Publikationen

Mayer, G. (2012b). Magier des 21. Jahrhunderts: Ein Versuch der Dimensionierung der Persönlichkeit des Magiers. In M. Schetsche & K. Krebber (Hrsg.), Grenzpatrouillen: Sozialwissenschaftliche Forschung zu außergewöhnlichen Erfahrungen und Phänomenen. (S. 133–165). Logos.

Mayer, G. (2010). Moderne magische Praxis: Modelle—Techniken—Schulen. Grenzgebiete der Wissenschaft59(2), 99–134.

Mayer, G. (2009). Magicians of the 21st century: An attempt at dimensioning the magician’s personality. Magic, Ritual, and Witchcraft4(2), 176–206. https://doi.org/10.1353/mrw.0.0150

Mayer, G. (2008). Arkane Welten: Biografien, Erfahrungen und Praktiken zeitgenössischer Magier. Ergon.

Mayer, G. (2008). Die Bedeutung von Tradition und Geheimnis für praktizierende Magier des 21. Jahrhunderts: Ergebnisse eine Interviewstudie. Aries8(2), 117–138. https://doi.org/10.1163/156798908×327302

Projektmitarbeiter
Inszenierung des "Germanischen" im Neuheidentum der Gegenwart

Im Zentrum des – in Kooperation mit dem Institut für Soziologie der Universität Freiburg durchgeführten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten – Forschungsprojekts stand die religionsethnographische Untersuchung so genannter germanisch-neuheidnischer Gruppen im deutschsprachigen Raum. Dabei handelt es sich um alternativreligiöse Gemeinschaften, deren Mitglieder sich als Anhänger einer (vermeintlich) vorchristlichen Religionsform Nord- und Mitteleuropas verstehen. Ihr religiöses Selbstverständnis changiert zwischen dem Anspruch einer möglichst authentischen Rekonstruktion archaischer Glaubenswelten und der Notwendigkeit, alternativreligiöse Praktiken in einen modernisierten Alltag zu integrieren. Die sinnhafte Verbindung subjektiver religiöser Erfahrung, kollektiven Wissens und gemeinschaftlicher wie individueller Inszenierungsformen einer als „germanisch“ deklarierten Religiosität stand im Mittelpunkt der im Herbst 2009 abgeschlossenen Feldforschungen.

Das Forschungsdesign der Studie beruhte auf einer Kombination von teilnehmender Beobachtung bei Gruppenritualen und ausführlichen Leitfadeninterviews mit langjährigen Gruppenmitgliedern. Insgesamt wurden 26 Interviews mit 28 Personen aus 14 Gemeinschaften dieser drei Strömungen sowie 6 teilnehmende Ritualbeobachtungen bei unterschiedlichen Gruppen durchgeführt.

Auf der Vielzahl der empirischen Einzelbefunde können hier nur einige wenige exemplarisch vorgestellt werden: Essentiell für die asatheistische Religion ist – neben einem verbreiteten Animismus mit einem großen Spektrum akzeptierter nonhumaner Wesenheiten (wie etwa Feen oder Zwerge) – vor allem die rituelle Verehrung von Ahnenwesen und germanischen Gottheiten wie Odin, Thor, Frey und Freyja. Die Opferrituale (Blóts) werden entweder individuell anlassgebunden oder aber gemeinschaftlich an bestimmten Jahrkreisfesten Sonnenwenden und Äquinoktien) abgehalten. Der Ritualistik liegt die Vorstellung zu Grunde, dass transzendente Wesenheiten als personale Repräsentation von Naturkräften oder aber als Emanationen der eigenen Psyche (Persönlichkeitsanteile) im Alltagsritual kontaktierbar sind und das Lebensglück positiv beeinflussen können. Der asatheistische Polytheismus ermöglicht dabei eine positiv-sinnhafte Erklärung außergewöhnlicher Erfahrungen, die in rationalistischen Weltkonzepten meist negiert werden (müssen).

Die Furcht vor sozialer Stigmatisierung am Arbeitsplatz bzw. innerhalb der Familien führt zu vielfältigen Strategien der Geheimhaltung der eigenen religiösen Überzeugungen und Praktiken, insbesondere bei den sozial angepassten Asatruar aus den Mittelschichten.

Die im Herbst 2009 mit der Dissertation von René Gründer abgeschlossene Feldstudie liefert eine Vielzahl von Daten und Einordnungen, die zu einer differenzierteren wissenschaftlichen und öffentlichen Wahrnehmung dieses alternativreligiösen Feldes führen könnten.

Publikationen

Gründer, R. (2012): Riskiertes Verstehen. Lebensweltanalytische Religionsethnografie alternativreligiöser Gemeinschaften am Beispiel der Asatrú. in: Schroer, N./Hinnenkamp, V./Kreher, S./Poferl, A.: Lebensweltanalytische Ethnographie. Essen: Oldib-Verlag.

Gründer, R. (2012): Runengymnastik. Die soziale Konstruktion eines esoterischen ‚Körper-Kults‘. in: Gugutzer, R./Böttcher, M./Polchow, S. (Hg.): Körper, Sport und Religion. Soziologische Erkundungen. Wiesbaden: VS-Verlag.

Gründer, R. (2010): Religiöse Beheimatungsversuche: Germanischgläubiges Neuheidentum als Ausdruck spiritueller Glokalisierung. in: Seifert, M. (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ‚Heimat‘ als Argument im Prozess der Moderne (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde Bd. 35). Leipzig: Universitätsverlag, S.219-230.

Gründer, R. (2010): Blutgnostische Heilslehren im alternativreligiösen Spektrum der Gegenwart. In: Groß, D./Knust, C. (Hg.): Blut – Die Kraft des ganz besonderen Saftes in Medizin, Literatur, Geschichte und Kultur. Kassel: University Press. S.229-252.

Gründer, R. (2010): Moderner Stammesgesang. „Germanisches“ in der Musik religiöser Neuheiden und der Jugendkultur des Neofolk. in: Seifert, M., Bröcker, M. (Hg.): Aspekte des Religiösen in popularen Musikkulturen. Internationale Tagung der Kommission zur Erforschung musikalischer Volkskulturen und des ISGV in Dresden, 8. bis 11. Oktober 2008 (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde Bd.19). Dresden: Thelem Verlag, S.213-233.

Gründer, R. (2010): Blótgemeinschaften. Eine Religionsethnografie des ‚germanischen Neuheidentums‘, Grenzüberschreitungen Bd. 9. Würzburg: Ergon. [zgl. Univ. Diss. Freiburg 2009]

Gründer, R. (2009): Asatheismus. Eine feldforschungsbasierte Religionsethnographie germanisch-neuheidnischer Religionsentwürfe im deutschsprachigen Raum. Diss. Universität Freiburg, Philosophische Fakultät.

Gründer, R. (2009): Runengeheimnisse. Zur Rezeption esoterischen Runen-Wissens im germanischen Neuheidentum Deutschlands. In: Aries 9, N2: 137-174.

Gründer, R. (2009): Traditionen des germanischen Heidentums in der Moderne. In: Gnostika 42, 35-46.

Gründer, R. (2009): Asatru in Deutschland – Strömungen einer alternativreligiösen Bewegung. In: Ders., Schetsche, M.; Schmied-Knittel, I. (Hg.): Der andere Glaube. Europäische Alternativreligionen zwischen heidnischer Spiritualität und christlicher Leitkultur. Würzburg: Ergon, 77-99.

Gründer, R.; Schetsche, M.; Schmied-Knittel, I. (2009) (Hg.): Der andere Glaube. Europäische Alternativreligionen zwischen heidnischer Spiritualität und christlicher Leitkultur. Würzburg: Ergon.

Gründer, R.; Schetsche, M.; Schmied-Knittel, I. (2009): Der andere Glaube – soziologische Dimensionen europäischer Alternativreligionen. In: Dies. (Hg.): Der andere Glaube. Europäische Alternativreligionen zwischen heidnischer Spiritualität und christlicher Leitkultur. Würzburg: Ergon, 167-194.

Gründer, R. (2008): Germanisches (Neu-)Heidentum in Deutschland. Entstehung, Struktur und Symbolsystem eines alternativreligiösen Feldes. Berlin: Logos.

Projektmitarbeiter
Modi der Wirklichkeitskonstruktion in magischen und alternativreligiösen Gruppen

Aufgabe des Projekts ist der Vergleich wissenschaftlicher Konzeptualisierungen der biographisch bedeutsamen Wirklichkeitskonstruktion von magisch Praktizierenden und Anhängern neopaganer Gruppen. Das Projekt verbindet dabei theoretische Analysen mit empirischen Daten aus Feldstudien zu zeitgenössischen Magiern und Schamanen sowie zu germanischgläubigen Neuheiden (Ásatrú). In der akademischen Diskussion konkurrieren seit Jahren das Konzept des Interpretive Drift, also des allmählichen Verfestigen magischer Beliefs durch praktische Erfahrungen (Luhrmann), und das der Coming Home-Erfahrung (Adler), also der Empfindung, mit dem Beitritt zu einer neopaganen Gruppe keine religiöse Konversion zu erleben, sondern bereits lange Bekanntes lediglich wiederzufinden. (Letzteres ist ein Narrativ, das auch im neopaganen Feld selbst vorfindbar ist.) Ein Ziel der Untersuchung besteht darin, das Verhältnis dieser beiden Konzepte oder Modi der Wirklichkeitskonstruktion zueinander zu bestimmen. Gefragt wurde dazu ebenfalls nach der Relevanz anderer biographischer Faktoren bei der Hinwendung zu solchen Gruppierungen, für die magische Praktiken und Rituale von besonderer Bedeutung sind. Darüber hinaus untersuchen wir die Bedeutung außergewöhnlicher Erfahrungen für den Prozess, die mit einem ausgeprägten subjektiven Evidenzempfinden verknüpft sind und die oft in diesem Zusammenhang von der Forschung ignoriert werden. Zieht man solche individuellen biografischen Aspekte wie auch unterschiedliche persönliche Motivationsstrukturen in Betracht, so ergibt sich eine immense Bandbreite an möglichen Zugängen zu heterodoxen Weltanschauungen. Unsere These lautet, dass einfach Generalisierungen bezüglich der Charakterisierung eines typischen Wegs zur Übernahme magischer Glaubensvorstellungen und Praktiken irreführend sind.

Publikationen

Mayer, G., & Gründer, R. (2012). Coming Home or Drifting Away: Wege zur Übernahme heterodoxer Glaubensvorstellungen und alternativer religiöser Weltanschauungen. In M. Schetsche & K. Krebber (Hrsg.), Grenzpatrouillen: Sozialwissenschaftliche Forschung zu außergewöhnlichen Erfahrungen und Phänomenen. (S. 198–221). Logos.

Mayer, G., & Gründer, R. (2011). The importance of extraordinary experiences for adopting heterodox beliefs or an alternative religious worldview. Journal of the Society for Psychical Research75.1(902), 14–25.

Mayer, G., & Gründer, R. (2010). Coming home or drifting away—Magical practice in the 21st century: Ways of adopting heterodox beliefs and religious worldviews. Journal of Contemporary Religion25(3), 395–418. https://doi.org/10.1080/13537903.2010.516550

Projektmitarbeiter