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Wahrnehmung und Kognition
Die über unsere Sinne zugängliche Information aus der uns umgebenden Welt ist
unvollständig und zu einem variierenden Grad mehrdeutig. Sie muss disambiguiert und eine
stabile Wahrnehmung daraus konstruiert werden. Unterscheidungen zwischen Wirklichkeit und
Täuschung basieren somit zu einem großen Teil auf der Leistungsfähigkeit unseres
Wahrnehmungssystems und der Verlässlichkeit unseres Gedächtnisses.
Multistabilität ist ein paradigmatisches Beispiel in diesem Zusammenhang: Der betrachtete
Reiz, z.B. ein Necker Würfel, ist maximal mehrdeutig, die resultierende Wahrnehmung wird
instabil und wechselt spontan zwischen zwei oder mehreren möglichen Interpretationen,
obwohl sich der physikalische Reiz nicht verändert. Wir nutzen Multistabilität zur
Erforschung psychophysischer Beziehungen und außergewöhnlicher
Bewusstseinszustände.
Wissenschaftliche Mitarbeiter
Laufende Projekte
- EEG - Korrelate von veränderten Bewusstseinszuständen während
Meditation
Die Frage nach der Dauer der erlebten Gegenwart oder des Jetzt, ist von
großem Interesse für die Erforschung von Wahrnehmungsprozessen, von Bewusstsein und
nicht zuletzt von veränderten Bewusstseinszuständen. Die Dauer der erlebten Gegenwart
von etwa 3 s entspricht dabei der Dauer einer zeitlichen "Gestalt" in der Musik, eines
linguistischen Elements oder der mittleren Verweildauer einer Wahrnehmung bei der Betrachtung
einer mehrdeutigen Figur. In der Achtsamkeitsmeditation konzentrieren sich Meditierende auf das
Jetzt/die Gegenwart mit dem Ziel, veränderte Bewusstseinszustände mit erhöhter
Aufmerksamkeit und emotionaler Kontrolle zu erlangen. Es wird angenommen, dass sich dadurch die
erlebte Dauer der Gegenwart der Meditierenden ausdehnt. In der Literatur gibt es Hinweise, dass
buddhistische Mönche mit langer Meditationserfahrung deutlich längere Verweildauern
bei der Betrachtung mehrdeutiger Stimuli zeigen als nicht-meditierende Probanden. Das
unlängst präsentierte Necker-Zeno-Modell (Atmanspacher et al. 2004; Atmanspacher et
al. 2008) stellt einen Zusammenhang zwischen der mittleren Dauer der erlebten Gegenwart und zwei
weiteren für Wahrnehmung, Kognition und Bewusstsein relevanten Zeitkonstanten her, (a) der
Ordnungsschwelle (minimaler notwendiger zeitlicher Abstand zweier aufeinander folgender Reize
von etwa 30 ms, um deren Reihenfolge korrekt bestimmen zu können) und (b) der Dauer, in der
Größenordnung von etwa 300 ms, zwischen Beginn eines sensorischen Reizes und dessen
Bewusstwerdung. Nach diesem Modell sollte eine ausgedehnte Gegenwart mit einer verlangsamten
Bewusstwerdung sensorischer Information und/oder einer Senkung der Ordnungsschwelle einhergehen
(Atmanspacher et al. 2008). In einer EEG-Studie mit meditationserfahrenen und -unerfahrenen
Probanden sollen diese Voraussagen elektrophysiologisch geprüft werden. Wir untersuchen
speziell das zeitliche Muster ereigniskorrelierter Potenziale, die typischerweise bei der
Wahrnehmung von mehrdeutigen Figuren auftreten.
- Neuronale Verarbeitung sensorischer Ambiguität - Grundlagen
Die Wahrnehmung eines mehrdeutigen Bildes ist instabil und wechselt zwischen verschiedenen
Interpretationen. Winzige Detailänderungen können ein mehrdeutiges Bild disambiguieren
und dessen Wahrnehmung stabilisieren. Unlängst fanden wir einen EKP-Ambiguitätseffekt,
bestehend aus zwei markanten ereigniskorrelierte Potentialen (EKP), einer fronto-zentralen P200
und einer parieto-zentralen P400, mit folgenden Eigenschaften: (a) die EKP-Amplituden steigen
monoton mit abnehmender Mehrdeutigkeit des Stimulus an und (b) ihre Latenz und Verteilung auf
der Kopfoberfläche sind über verschiedene visuelle Dimensionen hinweg (Geometrie,
Semantik und Bewegung) sehr ähnlich (siehe Abbildung 1).
Wir interpretieren diese Effekte im Zusammenhang mit folgendem
Modell: Unser Wahrnehmungssystem gleicht die unvollständige und mehrdeutige sensorische
Information mit dem Wahrnehmungsgedächtnis ab um ein stabiles Perzept zu konstruieren.
Eine probabilistische (Bayessche) Inferenz-Einheit bewertet das Wahrnehmungskonstrukt, und die
P200- und P400-Amplituden spiegeln das Bewertungsergebnis wider. In einer Reihe aktuell
laufender Teilprojekte soll die Generalisierbarkeit des P200/P400 Effekts über verschiedene
Modalitäten hinweg (visuell, auditorisch und taktil) untersucht werden. In Planung findet
sich eine fMRI Studie, in der untersucht werden soll, ob zu den über die verschiedenen
visuellen Kategorien hinweg sehr ähnlichen EEG-Befunden auch ähnliche Quellen im Gehirn nachweisbar
sind.
- Neuronale Verarbeitung sensorischer Ambiguität bei psychiatrischen
Krankheitsbildern
Die einem Wahrnehmungsprozess zugrunde liegende Gewichtung der exogenen sensorischen Information
mit endogenen Gedächtnisinhalten kann je nach Qualität der exogenen Information in die
eine oder andere Richtung verschoben werden. Bei der Wahrnehmung von Patienten mit
Asperger-Autismus-Syndrom wird die sensorische Information stärker und das
Wahrnehmungsgedächtnis schwächer gewichtet als bei Normalprobanden. In einem
Kooperationsprojekt mit der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität
Freiburg untersuchen wir, ob Asperger-Patienten entsprechend einen gegenüber
Normalprobanden veränderten EKP-Ambiguitätseffekt aufweisen. In der Planungsphase befindet
sich ein weiteres Kooperationsprojekt in dem der EKP-Ambiguitätseffekt bei Patienten mit
Schizophrenie Spektrum Störung und gesunden Kontrollpersonen verglichen werden soll.
Publikationen
Kornmeier J, Bhatia K, Joos E (submitted) Top down resolution of visual ambiguity – knowledge from the future or by footprints from the past?
Hecker L, Rupprecht R, Tebartz van Elst L, Kornmeier J (submitted) ConvDip: A convolutional neural network for improved M/EEG Source Imaging
(Preview at BioRxiv here)
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PLoS ONE 15(9): e0237663
Joos E, Giersch A, Hecker L, Schipp J, Tebartz van Elst L, Kornmeier J (2020) Large EEG effects are highly similar across Necker cubes, smileys and abstract stimuli.
PLoS ONE 15(5): e0232928
Staadt R, Philipp ST, Cremers J, Kornmeier J, Jancke D (2020) Seeing what was not explained away: Visual illusion based on predictive coding signals
PLoS ONE 15(5): e0232349
Neumann F, Oberhauser V, Kornmeier J (2020) How our nose helps us optimize learning while we sleep – from lab research to real life.
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Kooperationspartner
PD Dr. H. Atmanspacher (IGPP, Freiburg & Collegium Helveticum, Zürich, Schweiz)
Prof. M. Bach (Universitäts-Augenklinik, Freiburg)
Prof. M. Castelo-Branco (University of Coimbra, Portugal)
PD Dr. T. Filk (Physik, Universität Freiburg)
Prof. G. Folkers (Collegium Helveticum, Zürich, Schweiz)
Dr. A. Giersch (Psychiatrie der Universität Strasbourg)
PD Dr. SP. Heinrich (Universitäts-Augenklinik, Freiburg)
Prof. R. O'Shea (Southern Cross University, Coffs Harbour, Australien)
Dr. Z. Sosic-Vasic (Psychiatrie der Universität Ulm)
Prof. M. Spitzer (Psychiatrie der Universität Ulm)
Prof. T. Stieglitz (Technische Fakultät der Universität
Freiburg)
PD Dr. R. Roeber (Institut für Psychologie, Universität Leipzig)
Prof. L. Tebartz van Elst (Psychiatrie der Universität Freiburg)
PD Dr M. Wittmann (IGPP)