Referent
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinik Köln
sowie
Institut für Neurowissenschaften und Medizin, Kognitive Neurowissenschaften (INM-3), Forschungszentrum Jülich
Zusammenfassung
Wesentlich für unsere menschliche Verfassung ist unsere Fähigkeit zur Zuschreibung von inneren Erlebnissen wie Wahrnehmungen, Gedanken, Urteile, Intentionen an andere Personen. Der Ertrag ist, dass wir so das Verhalten anderer erklären und vorhersagen können. Vermutlich hat diese Fähigkeit, die eine schnelle Übermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten von Generation zu Generation ermöglicht, maßgeblich zur Entwicklung von Kulturleistungen wie Wissenschaft, Technik, Philosophie, Kunst beigetragen (Tomasello). Diese Leistung vollziehen wir in sozialen Begegnungen anstrengungslos und intuitiv. Darüber hinaus wird diese Deutungsnatur (Hogrebe) auch immer dann spürbar und relevant, wenn die verfügbaren Datenbestände nicht mehr ausreichen, um zu Wissen im Sinne von begründeten Überzeugungen zu gelangen, sondern nur noch Ahnungen und Mutmaßungen erreicht werden können, um die erlebten Phänomene zu verstehen. Dieser offene Interpretationsspielraum wird in der Regel mit Erklärungen ausgefüllt, die auf andere Menschen oder anthropomorphe Agenten als Urheber zurückgeführt werden. In der Psychopathologie wird diese tief verankerte Deutungsnatur deutlich in Vorstufen des Wahns, die als noch nicht konturierte „Wahnstimmung“ (Conrad) erlebt werden. Im voll ausgebildeten Wahnsystem beziehen sich die Wahnthemen in aller Regel auf andere Menschen oder von ihnen gesteuerte Manipulanda. Im Religiösen ist die Deutungsnatur relevant bei dem Erleben des „Heiligen“ (Otto) und konstitutiv für die „Erfindung Gottes“ (Bering). Im Bereich des Okkultismus rufen unerklärliche Phänomene Interpretationen hervor, die sie als Wirkungen von personalen Agenten verstehen lassen. Diese Deutungsnatur lässt sich schließlich auch neurowissenschaftlich mit dem sogenannten Hirnruhezustand („default mode of brain function“, Raichle) engführen und damit auch neurobiologisch plausibel machen. Im Ertrag wird damit die anthropologische Grundeigenschaft unserer Deutungsnatur ausgeleuchtet und für das Verständnis verschiedener Erlebnisweisen nutzbar gemacht, die darüber miteinander in Beziehung gesetzt und auf die gleiche Fähigkeit unserer Deutungsnatur zurückgeführt werden können.