Gesellschaft – Wissen – Diskurse
Unter einer Verschwörung wird im Allgemeinen ein geheimes Zusammenwirken verschiedener Akteure zum Nachteil Dritter verstanden. In der Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele für Verschwörungen, die zum Teil erhebliche politische Auswirkungen hatten, wie etwa das Komplott zur Ermordung Julius Caesars im Jahr 44 v. Chr.
Bei einer Verschwörungstheorie handelt es sich um ein Überzeugungssystem oder Erklärungsmodell, welches aktuelle oder historische Ereignisse, kollektive Erfahrungen oder die Entwicklung einer Gesellschaft insgesamt als die Folge einer Verschwörung interpretiert. Es ist umstritten, seit wann Verschwörungstheorien in diesem Sinne existieren, es spricht jedoch vieles dafür, sie analog zu Verschwörungen als historische Konstante zu betrachten.
Als wissenschaftlicher Forschungsgegenstand etablierten sich Verschwörungstheorien ab der Mitte des 20. Jahrhunderts, insbesondere durch Texte des österreichisch-britischen Philosophen Karl Raimund Popper und den US-amerikanischen Historiker Richard Hofstadter. Popper beschrieb „die Verschwörungstheorie der Gesellschaft“ als „Verweltlichung eines religiösen Aberglaubens“ und assoziierte sie mit totalitären Ideologien.
Hofstadter sah gewisse Parallelen zwischen dem Hang zu Verschwörungstheorien und klinischer Paranoia und prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des „paranoid style“. Obwohl dies explizit nicht als psychologische, sondern als politische Kategorie gemeint war, ebnete Hofstadters assoziative Verknüpfung von Verschwörungstheorien und Paranoia den Weg für eine Psychologisierung oder gar Pathologisierung verschwörungstheoretischer Spekulationen.

Abb. 1
Die Struktur verschwörungstheoretischer Deutungsmuster (nach Anton und Schetsche 2020).
Die Überlegungen Poppers und Hofstadters prägen die Forschung zu Verschwörungstheorien bis heute. Insbesondere im Rahmen psychologischer und sozialpsychologischer Forschung zu Verschwörungstheorien tauchen entsprechende Annahmen explizit oder implizit immer wieder auf. Verschwörungstheorien gelten hier oftmals als irrationale und illegitime Überzeugungssysteme, weil sie für sich in Anspruch nehmen, über Kenntnisse von Verschwörungen zu verfügen, die es nach herrschender (kultureller und wissenschaftlicher) Lesart ‚in Wirklichkeit‘ nicht gibt oder nie gegeben hat.
Die am IGPP eingenommene Forschungsperspektive betrachtet Verschwörungstheorien als psychologisches und soziales Phänomen und bemüht sich mithilfe wissenssoziologischer bzw. diskurstheoretischer Ansätze um eine theoretisch plausible wie empirisch tragfähige wissenssoziologische Theorie zur Entstehung und Verbreitung sowie zu den Funktions- bzw. Wirkungsweisen von Verschwörungstheorien als soziale Deutungsmuster.
Ausgewählte Projekte
Der Kampf um die Wahrheit. Verschwörungstheorien zwischen Fake, Fiktion und Fakten
Verschwörungstheorien gelten in der Regel als Ausdruck extremer politischer oder religiöser Haltungen, als Teil gefährlicher Ideologien oder mindestens als illegitime, falsche Meinungen oder Überzeugungen. Diese Sichtweise auf den Themenkomplex ‚Verschwörungstheorien‘ dominierte bereits vor der Corona-Pandemie den medialen und wissenschaftlichen Diskurs und hat seither zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Aus wissenssoziologischer Sicht ist eine derartige Rahmung des hochkomplexen sozialen Phänomens ‚Verschwörungstheorien‘ allerdings problematisch. Sie blendet einen wesentlichen Teil des Spektrums verschwörungstheoretischer Deutungen aus und mündet damit letztlich in einer Entdifferenzierung des Forschungsgegenstandes.
Andreas Anton und Michael Schetsche haben in den letzten Jahren ein wissenssoziologisch orientiertes Modell verschwörungstheoretischen Denkens vorgestellt, das Verschwörungstheorien diskursanalytisch untersucht und systematisch jene Prozesse gesellschaftlicher Wissens- und Wirklichkeitskonstruktion in den Blick nimmt, durch die Verschwörungstheorien in westlichen Gesellschaften heute (in der Regel) dem Bereich heterodoxen (also allgemein nicht anerkannten) Wissens zugeordnet werden.

Buchcover Anton & Schink (2021). Der Kampf um die Wahrheit. Verschwörungstheorien zwischen Fake, Fiktion und Fakten. Komplett-Media
Das Ziel des Buchprojektes „Der Kampf um die Wahrheit“ bestand darin, die wesentlichen Implikationen dieses Modells im Rahmen einer populärwissenschaftlichen Buchpublikation einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Darüber hinaus sollte der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Diskussion zum Thema ‚Verschwörungstheorien’ und die Wirkungsgeschichte verschiedener verschwörungstheoretischer Deutungsmuster rekonstruiert werden. Als Kooperationspartner konnte der Soziologe Dr. Alan Schink gewonnen werden, der an der Universität Salzburg zum Thema ‚Verschwörungstheorien‘ promoviert hat und im Rahmen verschiedener anderer Kooperationen schon länger mit dem IGPP in Kontakt stand. Im Sommer 2021 wurden die Arbeiten zu dem Buch abgeschlossen, das schließlich im August 2021 im Komplett-Media-Verlag erschien.
Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens (2., erweiterte Auflage)
Spätestens seit der Corona-Pandemie werden Verschwörungstheorien zunehmend als gesellschaftspolitisches Problem wahrgenommen und sind zum Politikum geworden. Wohl noch nie zuvor gab es im öffentlichen Diskurs eine derart hohe Sensibilität für das Thema. Ängste vor Verschwörungen einerseits und Ängste vor Verschwörungstheorien andererseits schaukeln sich offenbar gegenseitig hoch. Dies führt zu einer wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung und zu einem Klima von Misstrauen, Empörung und Gereiztheit. Vor dem Hintergrund der aktuellen öffentlichen Diskussion zum Thema Verschwörungstheorien machte der Springer-Verlag im Jahr 2023 das Angebot, eine erweiterte Neuauflage des 2014 erschienenen Sammelbandes Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens (herausgegeben von Andreas Anton, Michael Schetsche und Michael Walter) zu veröffentlichen. Im Rahmen von sechs neuen Beiträgen nimmt die erweiterte Neuauflage aktuelle Entwicklungen in den Blick. In Kombination mit den ursprünglichen Aufsätzen soll so zu einem umfassenden und differenzierten Bild des sozialen Phänomens Verschwörungstheorien beigetragen werden.

Buchcover Anton, Schetsche und Walter (Hrsg.) (2024). Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens (2., erweiterte Auflage). Springer VS.
Weitere Publikationen
Anton, A., Schetsche, M., & Walter, M. (2024). Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens (2., erweiterte Auflage). Springer VS.
Väisänen, M., & Anton, A. (2024). Disqualifiziertes Wissen: Verschwörungstheorien im gesellschaftlichen Diskurs. In A. Anton, M. Schetsche, & M. Walter (Hrsg.), Konspiration. Soziologioe des Verschwörungsdenkens. 2., erweiterte Auflage (S. 35–53). Springer.
Anton, A., & Schink, A. (2022). Die konspirative Herausforderung. Zum individuellen und gesellschaftlichen Umgang mit Verschwörungstheorien. Bewusstseinswissenschaften. Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, 28(2), 47–61.
Anton, A., & Schink, A. (2021). Der Kampf um die Wahrheit. Verschwörungstheorien zwischen Fake, Fiktion und Fakten. Komplett-Media.
Anton, A. (2020). Die verschwörungstheoretische (De-)Konstruktion der Wirklichkeit. Zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien. In B. Frizzoni (Hrsg.), Verschwörungserzählungen (S. 61–74). Königshausen & Neumann.
Anton, A., & Schetsche, M. (2020). Vielfältige Wirklichkeiten. Wissenssoziologische Überlegungen zu Verschwörungstheorien. In S. Stumpf & D. Römer (Hrsg.), Verschwörungstheorien im Diskurs: Interdisziplinäre Zugänge. 4. Beiheft der Zeitschrift für Diskursforschung (S. 88–115). Beltz Juventa.
Anton, A. (2020). Willkommen in der Paranoia-Gesellschaft! Verschwörungstheorien in Zeiten von Corona. Zeitschrift für Fantastikforschung, 8(1), 12–19.
Anton, A., & Schetsche, M. (2015). Konspirative Wirklichkeit. Zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien. INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 4, 33–42.
Anton, A., Schetsche, M., & Walter, M. K. (Hrsg.). (2014). Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens. Springer VS.
Anton, A. (2011). Unwirkliche Wirklichkeiten. Zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien. Reihe: PeriLog. Freiburger Beiträge zur Kultur- und Sozialforschung. Logos.